Wenn man doch nur seine Arbeitsstelle hier vor Ort hätte

Das Zukunft der Arbeit-Team verabschiedet sich ab heute bis Ende August in eine Sommerpause. Wie viele andere Menschen in Deutschland wird ein Teil des Teams auch dieses Jahr wieder gewohnte oder neue Urlaubsorte aufsuchen. Kaum hat man sich in den neuen Orten nach einigen Tagen eingelebt oder aber bekannte Orte wieder neu entdeckt, stellt sich dann für viele Menschen bekannten innere Fragen: „Es ist so schön hier; wenn man doch nur seine Arbeitsstelle hier vor Ort hätte. Warum arbeitet man 220 Tage im Jahr an einem Ort mit vielleicht schlechterer Lebens-, Luft-, Umweltqualität und mehr Alltagsstress, wenn es doch so viele lebenswertere Alternativen gibt? Warum arbeitet man nicht an einem Ort, an dem andere Menschen Urlaub machen?“

Ja, warum machen wir dies eigentlich nicht?

Bisher sprach eine tradierte Anwesenheitskultur in vielen Unternehmen, die schlechte digitale Infrastruktur, die düsteren und wenig attraktiven demografische Aussichten vieler Urlaubsregionen (bspw. Harz, M-V) und die aus betrieblicher Sicht häufig existierenden Agglomerationsvorteile großer Städte dagegen.

Die starre Bindung wird aufgehoben

Es setzt inzwischen aber ein Umdenken ein.

Hohe zeitliche und finanzielle Aufwände für langes Pendeln zur Arbeit, die Möglichkeit, nahezu jede Schreibtischtätigkeit auch digital und mobil ausüben zu können, die höhere Zufriedenheit der Menschen bei selbstbestimmter Arbeit und die sich zunehmend durchsetzende Erkenntnis in Unternehmen, dass Zielerfüllungen wichtiger sind als Arbeitszeitkonten und Anwesenheit sind maßgebliche Gründe dafür, dass die starre Bindung des Wohn- an den Arbeitsort aufgehoben werden kann.

Hinzu kommen positive Rollenmodelle, die sowohl für Selbständige als auch Angestellte, für Führungsmenschen wie auch für Arbeitnehmer, für Kinderlose und Eltern eine Möglichkeit aufzeigen, die Zukunft der Arbeit anders als bisher zu leben.

Da ist zum Beispiel Willi Kaczorowski, Digitalberater von Städten und Kommunen und Autor von „Die smarte Stadt“, der neun Monate in Deutschland und die Wintermonate auf Gran Canaria in seiner kleinen Zweitwohnung verbringt, um das letzte Arbeitsjahr nach- und das nächste vorzubereiten. Seine Foto-Posts, auf denen der Laptop auf dem Balkon mit Blick auf den Ozean zu sehen ist, zeigen uns, was alternativ für viele andere Erwerbstätige auch möglich sein könnte. “Ich kann überall arbeiten, sobald eine leistungsfähige Breitbandversorgung und vernünftiges WLAN bereit steht”, meint Willi Kaczorowski.

Dann sind da Inga und Christian Wiele, ehemals SAP-Angestellte in Süd-Deutschland, jetzt freiberufliche Design-Thinkerin und Digitalberater, die vor Jahren in das strukturschwache aber touristisch spannende St. Peter Ording gezogen sind und ebenfalls dort arbeiten und leben, wo andere nur Urlaub machen. Sie behalten dieses Geheimnis aber nicht für sich, sondern werben für dieses „Umparken im Kopf“ auf dem jährlichen Beachcamp SPO.

Die Beschäftigten können arbeiten, wo sie wollen

Solche Modelle sind aber nicht nur für Selbständige denkbar. Microsoft Deutschland, so Thomas Langkabel, der dort für eGov, OpenGov, AI und Digital Ethics zuständig ist, habe sich durch den Umbau der deutschen Konzernzentrale in München komplett und konsequent von der Anwesenheitskultur vergangener Tage verabschiedet. Die Beschäftigten können arbeiten, wo sie wollen, solange die Zielerfüllung beachtet wird, so Langkabel.

Wer sich noch intensiver über die vielfältigen Potenziale dieser Arbeitsmodelle informieren möchte, kann dies auch in der Studie nachlesen, die wir letztes Jahr mit mehreren Projektpartnern kollaborativ erarbeiten konnten und die unter der Überschrift „Digitale Region“ zu finden ist. Es finden sich dort etliche Praxisbeispiele. Es hat sich gezeigt: Die Vorteile solcher Remote-Arbeitsplätze beginnen, die ehemaligen Agglomerationsvorteile zu überwiegen.

Die Zukunft wird so oder so auf Erwerbstägige zukommen

Dieser Aspekt der Zukunft der Arbeit ist nur einer von vielen, mit dem wir uns als Team in den nächsten Jahren beschäftigen wollen. Wir werden uns vor allem mit Fragen der Arbeitsorganisation sowie -kultur in digitalen Zeiten und der Vereinbarkeit 4.0 beschäftigen. Darunter fallen Themen, die für die LeserInnen und Projektinteressierte hoffentlich spannend sind, als da wären:

  • die Disparität zwischen gesetzlichen Rahmenbedingungen und Alltagsanforderungen in der Zukunft der Arbeit,
  • die Lage der Clickworker, Crowdworker und Teilzeit-Selbständigen mit Blick auf deren Absicherung,
  • die Identifikation erfolgreicher und partizipativer Modelle der betrieblichen Transformation und die
  • Entwicklung eines Modells „Vereinbarkeit 4.0“, das uns allen eine bessere Vereinbarkeit von Leben und Arbeit (bezüglich Werten, Wahl des Arbeitsortes und der Arbeitszeiten) auf dem Weg zum mündigen Arbeitnehmer ermöglicht.

Mit dieser Agenda wollen wir einen Gegensatz bilden zur weit verbreiteten dystopischen und von Angst geprägten Debatte über die Zukunft der Arbeit. Dieses Zukunft wird so oder so auf Erwerbstägige und die nächste Generation in Deutschland zukommen. Es kommt darauf an, dass wir uns dieser Herausforderung offensiv stellen. Ich finde, Inga, Willi und Thomas zeigen sehr schön, wie eine solche Zukunft aussehen könnte. Lassen wir uns vielleicht sogar in der anstehende Urlaubszeit auf diese spannenden Gedanken ein.

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