Vereinbarkeit wird meistens immer noch mit Betreuung von Kindern und lediglich „Frauenthemen“ sowie alten Rollenmustern assoziiert. Muss man nicht in Zeiten des Umbruchs der gesamten Gesellschaft weiterdenken?

Kürzlich stieß ich auf einen IAB Kurzbericht von Torsten Lietzmann und Claudia Wenzig zu dem Thema “Welche Vorstellungen über die Vereinbarkeit von Beruf und Familie bestehen”: Bereits in der Seitenspalte wurde klargestellt, dass bei Frauen die Wünsche nach der Arbeitszeit stark davon abhängig seien, ob Partner und/oder Kinder im Haushalt vorzufinden sind.

Bei Männern hingegen wurde seltsamer Weise gleich ausgeschlossen, dass der Wunsch in Bezug auf die Arbeitszeit von dem Vorhandensein von Partnern und/oder Kindern beeinflusst wird. Also wurde der Fokus der Betrachtung auf die Einstellungen von Müttern zur Müttererwerbstätigkeit und externen Kinderbetreuung gelegt. Ist das nicht zu traditionell gedacht?

Mütterliche Potentiale

An diesem Punkt hat sich mir schon die Frage gestellt, ob diese Betrachtung noch zeitgemäß ist. Unabhängig von dem Ziel der Betrachtung (“Gibt es bei der Erwerbstätigkeit von Müttern noch Potentiale”) und der Anmerkung der Autoren, man müsse noch weitere Betrachtungen in diesem Kontext vornehmen:

Wir tun uns als Gesellschaft offensichtlich leicht damit, bestimmte Umstände vor dem Hintergrund unserer Vorstellungen zu interpretieren, ohne jedoch die Vielfältigkeit der möglichen Ursachen zu sehen und auch Veränderungen und Nicht-Mainstream-Vorstellungen zu berücksichtigen. Im Fall dieser Studie war also meine Frage: Woher weiß ich aufgrund der Tatsache, dass für Männer in Bezug auf ihren Arbeitszeitwunsch (im Mittel eine 35-Stunden-Woche) die Haushaltssituation keine Rolle spielt? Gleiche Wünsche in Bezug auf die Länge der Arbeitszeit sagt doch noch nichts über die Gründe aus.

Wer sagt, dass die befragten Väter nicht gerade diese Zeit angegeben haben, um eben die neu gewonnenen Stunden mit ihrem Nachwuchs und der Familie zu verbringen und private Pflichten zu erfüllen? Diese Frage stellt sich nochmal mehr, wenn man sieht, dass Frauen ohne Partner und Kinder (32,3 Std. pro Woche) und Frauen mit Partner und ohne Kinder (27,8 Std. pro Woche) sogar noch weniger arbeiten wollen als die Männer mit Familien. Das heißt also, dass auch die Motivation von Frauen nicht allein auf die Haushaltskonstellation zurückzuführen sein kann.

Wenn man den Männern die Motivation für reduzierte Stunden zugunsten der Familie abspricht, kann man nicht gleichzeitig den Frauen nur altruistische Motive zugunsten der Familie zusprechen.

Vereinbarkeit 4.0

Ein Benennen von Gründen kann in diesem Zusammenhang nur reines Raten sein. Dies vor allem vor dem Hintergrund, dass nie allein die Frage nach Partner und Kindern ausschlaggebend für die Vereinbarkeit von Familie und Privatleben sein kann. Bereits im engeren Sinne ist die Betreuung und Pflege von Angehörigen, also Eltern, Ehepartnern, Geschwistern usw. mitzudenken sowie auch von Freunden und Nachbarn – eine Eingrenzung des Familienbegriffes ist nicht machbar und auch überhaupt nicht in unserem Interesse.

Und wer will sonstige private Verpflichtungen ausnehmen wie z.B. ehrenamtliches Engagement in Vereinen und gemeinnützigen Institutionen, ohne die es manche für unsere Gesellschaft so wichtige Aktivitäten gar nicht mehr gäbe. Aber auch, wenn es um das reine Verfolgen von rein privaten Interessen in der Freizeit geht:

Dürfen wir bewerten, was Menschen außerhalb ihrer Arbeitzeit tun und wie sie verschiedene Tätigkeiten zwischen privat und dienstlich aufteilen? Trainiert ein angestellter Tischler neben der Arbeit für einen Marathon, ist seine Zeit auch damit ausgefüllt – und er darf sich nicht dafür rechtfertigen müssen.

Es wird deutlich, dass der (z.T. absichtlich) genutzte Vereinbarkeitsbegriff sehr eingeschränkt ist und wir uns darüber Gedanken machen müssen, was Vereinbarkeit in Zukunft alles bedeuten kann und sollte. Folgende Aspekte könnten oder müssten zum Beispiel in ein solches Vereinbarkeitsmodell mit einbezogen werden:

Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben

Dabei geht es um die möglichst unbelastete Erfüllung sowohl privater wie auch beruflicher Verpflichtungen. Je besser hier der Ausgleich gelingt, umso eher ist wahrscheinlich, dass zufriedene und motivierte Mitarbeiter einerseits ihrer Arbeit nachkommen können und bessere Arbeitsergebnisse erzielen und andererseits mit ausreichend Aufmerksamkeit und Kraft für die anderen Bereiche ihres Lebens da sein können.

Noch nie zuvor konnte eine Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben mit Unterstützung der digitalen und technischen Möglichkeiten so gut unterstützt werden. Noch wird das Potenzial nicht annähernd ausgeschöpft und es bleibt die Frage, wie dies im Interesse aller gelingen kann.

Vereinbarkeit von Beruf und Arbeit

Im Zuge der Digitalisierung offenbaren sich zum Teil eklatante Diskrepanzen zwischen dem, was Arbeitnehmer laut ihrer Stellenbeschreibung arbeiten sollen und dem, wozu sie in der Lage wären und was sie vielleicht auch antreibt. Dies ergibt sich z.T. bereits aus dem Umstand, dass ein erlernter Beruf mit den dazugehörigen angeeigneten Kompetenzen und Fachkenntnissen dann nicht unbedingt zum Einsatz kommt, wenn in einem anderen als dem erlernten Berufsfeld gearbeitet wird.

Dazu kommen aber auch weitere Kompetenzen und Fähigkeiten, die im privaten Bereich erworben wurden (z.B. durch Mitgliedschaft im Chaos Computer Club im Bereich der Verschlüsselung, soziale Kompetenzen durch Leitung von Schulpflegschaften, Vorsitzendentätigkeiten im Sportverein usw.).

Die Einstellung und der Einsatz von Mitarbeitern erfolgen immer noch weitestgehendst entsprechend einer konkreten formalisierten Vorstellung, was die Person auf der freien Stelle zu tun hat und einem Abgleich, wer dieser Vorstellung am nächsten kommt (neben der Berücksichtigung weiterer Aspekte, die nicht unbedingt etwas mit dem fachlichen Können zu tun haben wie z.B. sozialer Kompetenz).
Alle Fähigkeiten und Kompetenzen, die möglicherweise noch vorhanden sind, bleiben unberücksichtigt.

Dies führt zur Verschwendung von Ressourcen und Innovationen für den Arbeitgeber sowie zur Unzufriedenheit von Mitarbeitern, wenn sie nur eingeschränkt ihr Können und Wissen anwenden können und so immer unter ihren Möglichkeiten bleiben. Hier wäre die Frage, inwieweit ein Wechsel weg von Stellenbeschreibungen hin zum fähigkeits- und kompetenzgerechten Einsatz von Mitarbeitern möglich und umsetzbar ist, so dass Innovationen und Veränderungen angestoßen werden.  

Vereinbarkeit von Arbeit und sozialer Absicherung

Bereits ohne die Auswirkungen der Digitalisierung wird es immer schwerer, eine dauerhafte soziale Absicherung der Menschen durch Arbeit und durch eine auskömmliche Rente zu erreichen. Ein Angestelltenverhältnis sichert bereits seit langem nicht mehr unbedingt die Lebenshaltungskosten einer Familie ab. Erst Recht wird es immer schwieriger, Absicherungen für Gesundheit und insbesondere das Alter neben dem Lebensunterhalt vorzunehmen.

Folge davon sind die Aufnahme z.B. mehrerer Tätigkeiten. Gerade neue Arbeitsformen, die zum großen Teil durch die Plattformökonomie entstanden sind, nehmen stark zu. Dabei können diese Arten von Beschäftigung sowohl als Nebenbeschäftigung in sogenannten “hybriden” Arbeitsformen ausgeführt werden oder auch als Hauptberuf. Ein großes Problem gerade in Bezug auf die soziale Absicherung ist dabei jedoch die rechtliche Einordnung der neuen Beschäftigungsform und der damit einhergehenden sozialen Absicherung.

Die grundsätzliche Einordnung in ein Arbeitsverhältnis oder Selbständigkeit hilft allein nicht weiter, da bereits diese Einordnung aufgrund der neuen durch die Digitalisierung ermöglichten Arbeitsformen strittig ist. Selbst wenn man aber eine Zuordnung zur Selbständigkeit vornimmt, gibt es wiederum verschiedene Möglichkeiten, die entweder eine gewisse Sicherung beinhalten – oder eben nicht (z.B. Einordnung als arbeitnehmerähnliche Person oder die Anwendung des Heimarbeitsgesetztes).

Aber auch diese Formen sind veraltet und genügen den Realitäten der neuen Arbeit  verknüpft mit den Anforderungen an soziale Absicherung nicht mehr. Neben der Frage, wie eine Absicherung über diese Beschäftigungsverhältnisse erfolgen kann, besteht also noch viel Diskussionsbedarf über die Umsetzung.

Vereinbarkeit von Werten des Arbeitgebers & Arbeitnehmers

Diesen Aspekt der Vereinbarkeit gibt es bereits seit langem in Bezug auf die sogenannten Tendenzbetriebe: unter bestimmten Voraussetzungen sind diejenigen Betriebe in Bezug auf die Betriebsverfassung privilegiert, die besondere, im Gesetz festgelegte Ziele verfolgen. Einer der bekanntesten – und am meisten diskutierten Fälle – ist beispielsweise der Arzt in einem katholischen Krankenhaus, der sich nach erfolgter Scheidung wieder verheiraten möchte und dem dafür – rechtmäßig – gekündigt wurde.

Ausschlaggebend ist das abweichende Verhalten von zentralen kirchlichen Positionen, das die Kirche von den Arbeitnehmern verlangen kann. In diesem Fall hat sich das Bundesverfassungsgericht gegen eine “Vereinbarkeit” ausgesprochen. Doch wie ist es, wenn der Arbeitnehmer moralisch strengere Ansichten hat? Ein schönes Beispiel ist ein aktueller Artikel bei Spiegel online über die Autoindustrie. Darin wird zitiert: “Kein Ingenieur will ein dreckiges Auto bauen”.

Was also, wenn es – wie in diesem tatsächlich gelebten Fall – nicht nur um den Verstoß gegen eigene Überzeugungen zum Umweltschutz geht, sondern sogar illegale Handlungen mit der Erledigung des Jobs einhergehen. Auch hier ist davon auszugehen, dass eine bessere Arbeit geleistet werden kann, wenn die Überzeugungen und Werte von Betrieb und Mitarbeitern zusammenpassen. Was braucht es, um dies zu bewerkstelligen? Zunächst sicher erstrebenswertere Ziele als der Betrug des Kunden.

Diese verschiedenen Bereiche zeigen: Vereinbarkeit ist viel mehr als nur die Frage, wie man mit Kindern gleichzeitig irgendwie berufstätig sein kann und dass diese Frage vorrangig nur Frauen angeht – wobei sich selbst die Genderforschung schwer tut, diese Sicht auf tradierten Geschlechterrollen und -klischees abzulegen.

Die notwendige Weiterentwicklung des Vereinbarkeitsmodells

Die notwendige Weiterentwicklung des Vereinbarkeitsmodells zeigt aber, dass wir uns von den klassischen Vorstellungen und Rollenbildern verabschieden müssen. Die neuen Perspektiven machen deutlich, wie groß der Abstimmungsbedarf und die Bedürfnisse der Mitarbeiter und der Betriebe in Bezug auf ihre Zusammenarbeit doch sind.

Das einfache Austauschverhältnis “Arbeit gegen Bezahlung” reicht schon lange nicht mehr, um das Miteinander von Arbeitnehmern und Arbeitgebern zu beschreiben. Wir alle müssen die Frage von Zusammenarbeit und Vereinbarkeit in allen Facetten aktiv beeinflussen und gestalten. Fangen wir an!

 

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