Auf nach Dollerup

Wir haben euch an dieser Stelle ja schon des Öfteren an konkreten Beispielen gezeigt, dass wir immer versuchen, die Werte, die sich mit digitaler agiler Arbeit verbinden lassen (Transparenz, Wertschätzung, Achtsamkeit, etc.), nicht nur theoretisch darzustellen sondern tatsächlich auch zu leben. Zuletzt hatte das hier Birgit mit ihrer Schilderung der Dienstreise per Rad gezeigt, wie man durch neue Perspektiven nachhaltigere Verhaltensweisen anwenden kann (Dank an @kkklawitter für deine inspirierenden Debattenbeiträge). Was uns damals noch als großer Schritt erschien (das eigene Rad im Zug mitnehmen) ist uns nach unserer letzten Radwandertour inzwischen selbstverständlich geworden.

Ingo hat uns zum Radwandern (zurück) gebracht. Wer ist Ingo? Ingo ist Betreiber des Youtube-Kanals „Ingo fährt Rad“ und schildert dort in sehr symphatischer unaufgeregter Art und Weise seine Radwanderungen durch Deutschland, Norwegen oder Dänemark. Nachdem wir einige Wochen über immer wieder Ingo bei seinen Radtouren über den Rücken geschaut hatten, haben wir (@win_bee und ich) uns gedacht, dass diese Art des Urlaubs aus vielen Gründen dieses Jahr die beste Wahl sein könnte. Erstens schien uns in Corona-Zeiten ein Urlaub im Ausland als relativ verantwortungslos gegenüber den Mitmenschen, die man nach der Rückkehr vielleicht hätte anstecken können. Zweitens sind wir in den letzten 3 Jahren (wieder) intensive Radfahrer geworden und haben neue Herausforderungen gesucht. Und drittens schien uns diese perspektivische Reduzierung auf das Wesentliche, die Abkehr von material- und konsumintensiven Urlauben, die Hinwendung zu nachhaltigeren Urlaubsaktivitäten in Zeiten von Corona und den damit einhergehenden Werteverschiebungen (Was ist wirklich wichtig?) mehr als naheliegend zu sein. Wir haben dann folgerichtig pro Person in den 6 Tagen insgesamt 100€ ausgegeben, dafür aber unendlich viel Natur und Chance zur Rückbesinnung erhalten. Geht es noch nachhaltiger?

In der Nähe von Melle

Unsere Tour führte uns an 6 Tagen von Gütersloh an die deutsche-dänische Grenze bei Dollerup. Dabei haben wir 520 km zurückgelegt. Zelte, die nur 1.200g wiegen, selbstaufblasbare Isomatten mit einer Stärke von 12 cm und entsprechend wetterfeste Bekleidung sind heutzutage – im Gegensatz zu „früher“ – für eine solche Tour guter Standard. Das Gewicht spielte eine unerwartet große Rolle, mussten wir doch am Ende feststellen, dass wir tatsächlich in der Summe 2.700 Höhenmeter bewältigt hatten! Norddeutschland ist mitnichten so durchgängig flach, wie dies allgemein dargestellt wird.

Rinteln
Rinteln

Die Tour führte uns durch Ostwestfalen-Lippe, der Weser entlang nach Rinteln. Von dort ging es weiter durch die Lüneburger Heide und östlich an Hamburg vorbei nach Schleswig-Holstein und über die Ostholsteinische Schweiz, die Schlei und Angeln nach Dollerup.

Campingplätze

Der Charme der Anmeldung auf Campingplätzen ist immer noch derselbe wie in den 1980er Jahren und trägt stellenweise (!) etwas die Patina, die deutsche Gasthöfe auf dem Lande haben aussterben lassen. Digitalisierung ist auf den Plätzen, auf denen wir waren, bis auf eine Webseite (Stil: 90er Jahre) und in einem Fall ein WLAN noch nicht wirklich angekommen. Ich bin mir sicher, dass es andere Beispiele geben wird. Schade ist aber eben, dass es keinen flächendeckenden Mindeststandard der digitalen Versorgung und des digitalisierten Verlaufs der Gästebetreuung gibt. Handschriftlich ausgestellte Rechnungen sind in vielen Fällen anscheinend weiter der Normalfall, Kartenzahlung  nach wie vor nicht Standard. Hier passt es auch ins Bild, dass es keine zentrale Plattform der Campingplätze gibt, auf der man sich über die Lage aller Plätze informieren könnte (ich lasse mich gern eines Besseren belehren!). Was uns extrem positiv aufgefallen war: Campingplätze sind ein Quell der Kommunikation. Dazu aber später.

Campingplatz in Rinteln

Radwege und StVO

Radwege in Deutschland scheinen nach wie vor gegen die finanzielle Ausstattung der Straßenerhaltung keinerlei Chancen zu haben. Hinweise auf Radwegeschäden befanden sich geschätzt auf einem Drittel der gesamten Fahrradstrecke und haben das Fortkommen entscheidend erschwert.

Hinweis auf Radwegeschäden

Glatte und abseits der Straßen geführte Radwege gab es vielleicht auf 10% der gesamten Strecke. Grenzwertig war es dort, wo uns das Fahrrad-Navi direkt an oder sogar auf Bundestraßen geführt hat. Hier offenbarte sich eine große Schwäche der allseits bekannten Outdoor-App; sie richtet sich meist nach der „kürzesten Strecke“, nicht aber nach der Befahrbarkeit der Strecke. Es gibt in der App einen Layer der Open Cycle Map. Hierbei muss man aber die gesamte Strecke dann manuell selbst „zusammenklicken“.

Autos werden gern auf Radwegen geparkt

Diesen Aufwand werde ich bei der nächsten Tour in jedem Fall betreiben, um eine Route entlang der überregional ausgeschilderten Radwanderwege zu finden. Es lohnt sich.

Ergänzende Bahnfahrten

Es gab aber natürlich auch sehr mutmachende Erfahrungen, die meinen eigenen Erfahrungen von Radtouren in den 1980ern widersprachen. Wir sind auf der gesamten Wegstrecke nicht ein einziges Mal angehupt worden! Auch die neuen Abstandsregeln in der StVO (1,5m innerorts, 2m außerorts) sind tatsächlich von einer übergroßen Mehrheit der Autofahrenden stets eingehalten worden. Das hat uns sehr gefreut. Tolle Entwicklung.

Nur ein einziges Mal – in einer einsamen Gegend ohne Autoverkehr – wurden wir aus dem fahrenden Auto unfreundlich darauf hingewiesen, dass wir gefälligst den kaputten Radweg zu nutzen hätten. Leider konnten wir die Autofahrerin nicht mehr auf ihre Unkenntnis der StVO und den Regeln der Radwegenutzungspflicht hinweisen.

Was uns weiterhin sehr gut gefallen hat: In Schleswig-Holstein (aber auch in einigen anderen Bundesländern) gibt es ausgediente Bahntrassen, die zu Radwanderrouten umgebaut worden sind. Wir fanden uns irgendwann auf der alten Bahntrasse Glinde-Trittau wieder. Wir hatten – gemeinsam mit vielen anderen Radfahrenden – die Gelegenheit, 20km durchgängig auf guten Belägen und ungestört von Autos und Motorrädern mitten durch Felder und Wälder fahren zu können. (Link).

Bahntrasse Glinde-Trittau

Die Kombination von Rad und Bahn ist von vielen tollen aber auch einigen negativen Erfahrungen geprägt. Es ist unglaublich effizient, im Regionalverkehr Bahn und Rad zu kombinieren. So waren wir mit dem SH-Ticket und den Rad-Tickets einen ganzen Tag in wechselnder Reihenfolge mit der Bahn und dem Rad unterwegs. Wir sind schnell an die touristisch interessanten Punkte gekommen, konnten uns vor Ort mit dem Rad flexibel bewegen oder auch mit dem Rad in die nächste interessante Stadt fahren. Das alles gab es für gerade einmal 19€ pro Person pro Tag! Daumen hoch dafür!

Was verbessert werden könnte, sind v.a. die Workflows bei der Nutzung dieser Kombi. So wird man bei Buchung der Regionalverkehrskarten zwar auf die Möglichkeit der Radreservierung hingewiesen (per Telefon!). Diese Reservierung ist aber komplett bedeutungslos, da sich niemand um die Reservierung schert. Wir hatten trotz Reservierung teils Probleme, unsere Räder aufgrund des großen Ansturms von Radfahrenden überhaupt in die Züge zu bekommen. Einfacher wird es einem nicht gemacht, wenn es für die Buchung eines Tagestickets und eines Radtickets zweier Apps (Bahn und Nah SH) mit zudem unterschiedlichen Tarifen (es gibt bis zu 3 Radtarife – für jeweils dieselbe Leistung) bedarf.

Als sehr problematisch empfanden wir die Zustände beim Zustieg zu den Fahrradwagons der Fernzüge. Die Deutsche Bahn hat hierfür extra Menschen angestellt, die sich allein um die Organisation des Einstiegs kümmern. Und dies ist leider auch notwendig. Stellt euch 15 vollbepackte Räder vor, die innerhalb von 5 Minuten ein Zugabteil komplett belegen sollen.

Radabteil im IC der DB

Kommunikation

Ab der allerersten Rast wurden wir beständig von fremden Menschen offen und neugierig angesprochen. Dabei spielte eine Rolle, dass man uns unsere Aktivität natürlich ansah. So wurde sich dann schnell über Radtechnik, vergangene Radtouren oder Tipps für die anstehende Wegstrecke ausgetauscht. Selbst zum Abendessen sind wir eingeladen worden. Wir haben in diesen Gesprächen sehr viel positive Energie wahrgenommen. Auch das hat uns gefreut und zugleich aber auch nachdenklich gestimmt. Nach 5 Monaten Corona und der sozialen Kontaktbeschränkung einerseits und der Berichterstattung über problematische Mitmenschen auf der anderen Seite (politischer Extremismus, Verweigerung des Maskentragens etc.) hatten wir inzwischen anscheinend die positiven Seiten des sozialen Miteinanders etwas aus dem Blick verloren. Wie vielen anderen Menschen muss dies auch so ergangen sein?

Fazit: Rad-Urlaub!

Urlaube mit dem Rad bedeuten nach gewissen Anfangsinvestitionen immer die Reduzierung auf das Wesentliche. Man kann nicht viel mitnehmen und muss Gewicht einsparen, man kann wegen des Wetters und der Strecke meist nur einen Tag im voraus Essen und Bekleidung planen. Umso weniger man „an Bord“ hat, desto einfacher ist der morgendliche Aufbruch zu organisieren. Wenn nach 3 Stunden Radfahrt der nächstgrößere Ort mit den Standarddiscountern erreicht ist, möchte man nach einem kleinen Essenseinkauf recht schnell diesen stressigen Ort wieder verlassen, um in das ländliche Leben einzutauchen. Der CO2-Fußabdruck dieses Reisens ist absolut minimal. Radreisen bedeutet zumeist eine Reduktion auf das Wesentliche. Das Einfache wird wieder schätzen gelernt, das offensichtlich Falsche (Straßenlärm, Gestank von Autos und Motorrädern, Dominanz von Autos im Straßenverkehr gegenüber Radfahrenden und Fußgängern, Armut) wird stärker wahrgenommen als dies im Alltag normaler Weise der Fall ist. Der Alltag erscheint plötzlich als Laborversuch, den man sich von außen anschauen kann und bei dem man sich über seltsame Situationen des Alltags wundert.

Wir möchten diese Art des Reisens, die nun auch durch Corona wieder stärker in Mode gekommen ist, auf jeden Fall weiterempfehlen und stehen euch selbstverständlich wie immer gern für Fragen zur Verfügung.

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