Wie die Corona-Pandemie flächendeckendes Homeoffice erwirkt und die Arbeitswelt nachhaltig beeinflusst.

Seit über einem Jahr ist es für hunderttausende Arbeitnehmer zum Alltag geworden, in der Arbeit zuhause zu sein – und zwar buchstäblich. Auch bei mir war das nicht anders. Ende 2020 bin ich ins Berufsleben gestartet und war seitdem nur wenige Tage vor Ort. Schon ab der zweiten Hälfte der ersten Woche war ich im Homeoffice. Der private Rückzugsort wurde zum Büro. Wo sonst gegessen, gebinget oder entspannt wurde, steht seit Monaten, in drei Metern Luftlinie zur Couch, ein zweiter Bildschirm. Essentials in diesen Zeiten. Was man diesen außerordentlichen Rahmenbedingungen zugutehalten muss, ist die in vielen Unternehmen enorm gesteigerte Flexibilität, die in dieser Form ohne die Pandemie erst in Jahren oder teilweise niemals Einzug gehalten hätte.

Eine Frage, multidimensionaler Input

Im Frühjahr 2020, die Pandemie hatte Europa längst erreicht und war als selbige eingestuft worden, lag es in der Phase der Themenfindung meiner Masterarbeit bereits auf der Hand, die Auswirkungen der weltweiten Pandemie zum Forschungsgegenstand meiner Thesis zu machen. Konkret führte ich qualitative, leitfadengestützte Experteninterviews entlang des folgenden übergeordneten Erkenntnisinteresses (ÜE): Welche Anforderungen gehen für Unternehmen und Mitarbeitern:innen mit dem sprunghaften Anstieg von Homeoffice während der Corona-Pandemie einher? Mein Ziel: Diese Anforderungen zu identifizieren und den unterschiedlichen Akteuren zuzuordnen – Unternehmen, Führungskräfte und Mitarbeitern (organisational, managerial und individual).

Die Zusammenstellung des Expertengremiums erfolgte interdisziplinär aus Theorie und Praxis. Somit konnte ich u.a. die Bereiche Führen auf Distanz, Zukunft der Arbeit, Kulturwandel, Organisationscoaching und die wissenschaftliche Betrachtung flexibler Arbeitsformen in meiner Befragung berücksichtigen. Die Ergebnisse werden folgend zusammengefasst darstellt.

Corona-Pandemie: Sense of Urgency und Potenz von VUCA

Groß waren die Anforderungen an Unternehmen, Führungskräfte und Mitarbeiter bereits vor der Pandemie und wurden nicht unmittelbar durch Corona ausgelöst. Die Pandemie vermittelt jedoch, ganz im Sinne des „Sense of Urgency“, die Dringlichkeit obligatorischer Veränderung. Unterschiedlichste Faktoren, die Einfluss auf die Veränderung der Arbeitswelt haben, lassen sich aufteilen und ergeben folgendes Bild:

Abbildung 1: Faktoren für die Veränderung der Arbeitswelt (eigene Darstellung)

Kollektive Verantwortung mit (obligatorischem) Top-Down-Impuls

Mit Blick auf das übergeordnete Erkenntnisinteresse und die Anforderungen, die sich für die unterschiedlichen Akteure ergeben, erlangt man nach Betrachtung der Auswertung die Erkenntnis, dass es sich um eine kollektive Verantwortung handelt, welche sich über alle Ebenen (organisational, managerial und individual) erstreckt und fest mit dem quantitativ höheren Anteil an Homeoffice einher geht. Verantwortung meint in diesem Fall auch das Bewusstsein, durch das eigene aktive Zutun Teil der Lösung und damit Teil eines remote stattfindenden Arbeitsablaufs und der Veränderung von Arbeit zu sein.

Zwar ist das Unternehmen bzw. sind die Führungskräfte als Unternehmensrepräsentanz in der Rolle des Impulsgebers, doch steigt remote die Selbstverantwortung auf allen Ebenen.

Hier zeigt sich bereits die Schwierigkeit trennscharfer Zuordnung von Anforderungen. Führungskräfte sind sowohl Mitarbeiter eines Unternehmens als auch Repräsentanten des selbigen. Werden Anforderungen eines Unternehmens thematisiert, bezieht sich das also auf Führungskräfte in der Rolle des Repräsentanten.Anforderungen an Führungskräfte hingegen meinen die Funktion der Führungskraft auf Abteilungs- oder Teamebene.

Vertrauen ist gut, Kontrolle nicht besser

Die Basis erfolgsversprechender Zusammenarbeit ist das Vertrauen. Vertrauen vor allem der Führungskräfte (in letzter Konsequenz also des Unternehmens) gegenüber den Mitarbeitern, aber auch umkehrt. Das Vorhandensein der Vertrauensbasis hängt mit der Unternehmens- und Arbeitskultur, mit den gelebten Werten, also der Unternehmensidentität, dem Sinek’schen „WHY“ zusammen. Unternehmen, die eine entsprechende kulturelle Basis nicht bereits etablieren konnten, sehen sich demnach nicht nur Herausforderungen bezüglich adäquater technischer Infrastruktur und Anforderungen an Datenschutz gegenüber, sondern auch mit der Schwierigkeit konfrontiert, die kulturelle Ebene erstens nicht in kürzester Zeit und zweitens remote kaum zielführend „implementieren“ zu können. Die kurze Zeit ist auch insofern entscheidend, da die Etablierung einer solchen Arbeitskultur als Top-Down-Prozess zu verstehen ist, welcher durch ein aktives Vorleben die Art und Weise vertrauensvoller Zusammenarbeit für die Mitarbeiter erlebbar und somit adaptierbar macht.

Abbildung 2: Anforderungen an Unternehmen in Bezug auf Homeoffice (eigene Darstellung)

Communication is Key, Servant Leadership King

Eine weitere zentrale Anforderung, die Unternehmen zu leisten haben, umfasst die Kommunikation. Sie nimmt insofern eine wichtige Funktion ein, da Unternehmen in Form von dialogorientierten Formaten das Gespräch mit den Mitarbeitern oder deren Vertretung suchen sollten, um Erfahrungen im Zeitraum vermehrter Heimarbeit zu evaluieren und schließlich zu überarbeiten, zu verwerfen oder beizubehalten. Finden diese Entscheidungsprozesse nicht auf Augenhöhe statt, besteht die Gefahr, dass sich die Mitarbeiter nicht „abgeholt“ fühlen, was sich auf die gesamte Zusammenarbeit auswirkt. Diese Gespräche sind Aufgabe der Führungskräfte, die, mit Blick auf oben thematisierte kollektive Verantwortung, auf die Mitarbeit der Arbeitnehmer angewiesen sind.

Die Anforderungen an Führungskräfte, in Funktion mit Team-Verantwortung, sind vielseitig und entscheidend abhängig vom jeweiligen persönlichen Verständnis von Führung.

Das erfolgreiche Führen auf Distanz setzt die Interpretation der Führungsaufgabe im Sinne einer „dienenden Führung“ (Servant Leadership) und somit der Rolle eines „Umfeld-Managers“ oder Coaches, voraus.

Das Vertrauen gegenüber den Mitarbeitern und dem Team erweist sich als erfolgskritisch, die Anforderung Kontrolle und Verantwortung ins Team abzugeben als notwendig.

Team-Identität bewusst initiieren, Tools experimentell nutzen

Die Notwendigkeit ergibt sich aus dem Ergebnis der Befragung, dass sich Führung zu einer präziseren und bewussteren Aufgabe entwickelt, welche die physische und psychische Gesundheit des Mitarbeiters in den Fokus nimmt. Dies geht mit einem Mehraufwand an Koordination einher, was die beschriebene Abgabe von Verantwortung bedingt. Zudem kommt es in der Führungsarbeit zu einer stärkeren Individualisierung, da die persönliche Situation des einzelnen Mitarbeiters an Relevanz gewinnt.

Die Anforderungen für Führungskräfte umfassen darüber hinaus Kenntnisse der Entstehung von Team-Identität, welche bei physischer Präsenz ohne direktes Einwirken entsteht, remote aber bewusst initiiert werden muss.

Außerdem erfordert die Führung auf Distanz die generelle Neuorganisation der Kommunikation, da sämtliche im Tagesverlauf kommunikativ auftretende Situationen hinsichtlich der Anforderungen im digitalen Raum hinterfragt werden müssen. Wichtige Eigenschaften einer Führungskraft sind in diesem Zusammenhang Medienkompetenz und darüber hinaus Experimentierfreude, um den Einsatz neuer Tools und Technologien nach dem „trial and error“-Prinzip zu erproben. In Bezug auf Leistungsmessung bedarf es einer Abkehr der Messung von Arbeitsleistung an Arbeitszeit. Vielmehr gilt es eine auf Zielen basierende Leistungsüberprüfung zu etablieren.

Abbildung 3: Profil Führungskraft für erfolgreiches Führen auf Distanz (eigene Darstellung)

Individualverantwortung: Mitarbeiten wird zu mitgestalten

Wie bereits oben erwähnt, ist die kollektive Verantwortung entscheidend, so also auch auf Seiten der Mitarbeiter. Eine Hauptanforderung ist, neben dem als Basis notwendigen Vertrauen, die Eigenverantwortung. Hierbei geht es um die Selbstorganisation, welche die Analyse der eigenen Aufgaben dahingehend einschließt, zu überprüfen, welche Arbeiten in welcher Form und an welchem Ort besser erledigt werden können. Hinzu kommt die Verantwortung, sich informiert zu halten – auf Team-Ebene, aber auch hinsichtlich neuer Entwicklungen auf der Seite des Unternehmens. Außerdem gilt es eigenverantwortlich festzustellen, welche Rahmenbedingungen der eigenen Produktivität zuträglich sind, um diese in der Folge auch zu schaffen oder deren Einrichtung zu initiieren. Eine unerlässliche Anforderung ist für Mitarbeiter auch die Medienkompetenz bzw. die Offenheit gegenüber Tools, Technologie und neuen Formen der Kommunikation sowie Experimentierfreude – Unbekanntem aufgeschlossen gegenüber zu stehen.

 

Abbildung 4: Anforderungen an Mitarbeiter im Zuge von Homeoffice (eigene Darstellung)

Die Untersuchung zeigt, dass die Anforderungen auf organisationaler, managerialer und individueller Ebene groß sind und nur durch dialogbasierte Kommunikation, gegenseitiges Vertrauen und kollektiver Verantwortungs- übernahme zielführend ist.

Je mehr Unternehmen auch künftig die Flexibilisierung von Arbeit fördern, desto eher werden die Anforderungen weiter bestehen bleiben.

Nach dem Motto „never waste a good crisis“, besteht für Unternehmen, Führungskräfte und Mitarbeiter die Chance, die Learnings der bisherigen Erfahrungen in wirkungsvolle Formen der Zusammenarbeit zu überführen und die erzwungenen Veränderungen, bedingt durch die Corona-Pandemie, nicht als Übergangslösung, sondern als Neuanfang zu begreifen. Als Neuanfang deshalb, weil sich die Arbeitswelt in wenigen Monaten so stark verändert hat, dass ein „back to where we came from“ dem Hinterhertrauern einer nicht mehr in der Form vorhandenen Welt gleichkäme.

Mittlerweile befinden wir uns in der dritten Corona-Welle und die Pandemie hält das Land nach wie vor in Atem. Um es positiv zu sehen: Aus Sicht der Unternehmen bietet sich die Möglichkeit das Erprobte anzuwenden und weiter zu verbessern, aus wissenschaftlicher Perspektive ermöglicht es der Forschung auf bislang generierten Erkenntnissen aufzubauen.

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